[Beilage zur „A Nação“ n° 15.797, Porto Alegre, Mittwoch, den 29 Juli 1951, p.37 — Nach Erzählung des verst. Johann Bencke, zusammengefasst von Arnaldo Pfaffenzeller — dieses Transkript wurde aus einer alten Kopie des oben genannten Artikels erstellt. An einigen Stellen ist diese Kopie nicht lesbar, was möglicherweise zu Übersetzungsfehlern geführt hat]
Die Gründung unserer Pikade fällt in das Jahr 1860. Somit ist das Centro Linha Brasil eine der älteren Siedlungen unseres Munizips, denn selbst vom „Stadtplatz Venancio Ayres“ war damals noch nichts zu sehen.
Der zu damaliger Zeit projektierte Munizipalsitz lag eigentlich ganz in unserer Nähe, Nordöstlich von unserer Pikade, noch in der Unteren Linha Brasil. Öde und traurig war der Anblick, der sich den neuen Zuwanderern auf ihrem Wege von Porto Gomes bis zu ihrem Bestimmungsort bot. Flaches Kampland , einer endlosen Steppe ähnlich, beherrschte das Landschaftsbild. Hie und da sah man wohl auch eine oder andere Hütte, die, Anspruchslosigkeit ihrer Bewohner entsprechend, aus dem billigsten Baumaterial zusammengestellt war, Stroh, Lehm und gerissene Palmitos. (Anmerkung: Porto Gomes ist der alte Name des Hafens, in dem Passagiere aus Porto Alegre von Bord gingen – heute heißt es Mariante)
Interessanter war es doch, wenn der Urwald erreicht war, nicht jedoch angenehmer. Nur ein schmaler Weg, eine Sogenannte Pik, führte in da Innere des unddurchdringlichen Blättermeeres. Und inmitten dieser grünen Wildnis lag, irgendwo, das Ziel ihrer Sehnsucht — die neue Heimat.
Die neue Heimat wurde mit sehr gemischten Gefühlen in Besitz genommen. elend um Kummer begannen für die Allermeisten vom ersten Tage ihres Urwalddaseins an. Mancher wäre sofort umgekehrt, wären ihm die notwendigen Mittel nicht schon vorher ausgegangen.
Der erste Bewohner von Linha Brasil war ein gewisser Peter Listerheim, ein stets lustiger und sehr tätiger Geselle. Er siedelte auf der Kolonie 17, rückte aber keines wegens dem jungfräulichen Urwald zu Leibe, um ihm das notwendige Pflanzland abzubringen. Er ernährte sich und die Seinen mit dem Herva-Mate-Handel und führte hier und dort Gelegenheitsarbeiten aus. Sein hier geborenes Söhnchen war der erste Erdenbürger, der in Linha Brasil das Licht der Welt erblickte. Peter Listerheim blieb nicht allzulange in dem feindlich-trotzigen Urwald der Linha Brasil. Er wanderte bald weiter und der Name dieser Familie ist in der Umgegend nicht mehr bekannt.
Ganz anders gestaltete sich das Schicksal des Siedlers Christian Heinrich Bencke, der — zwar fast gegen seinen Willen — in der Wildins aushielt. Er muss als der Pionier der Linha Brasil angesehen werden, denn er und seine Familie waren die ersten sesshaften Bewohner.
Anmerkung: Die Geschichte von Christian Heinrich Behncke finden Sie in einem anderen Beitrag in diesem Blog.
Christian Heinrich war geboren im Jahre 1826 in Mecklenburg-Schwerin und kam im Jahre 1851 als sogenannter „Brummer“ nach Brasilien. Er diente als Soldat im Feldzug gegen Rosas und bis in sein hohes Alter hinein erzählte er gerne kleine Erlebnisse und Episoden der kriegerischen Aktionen gegen den argentinischen Diktator. Manchmal mag er da auch wohl etwas auf geschnitten haben, so um Beispiel, wenn er erzählte Rosas habe von dem „alemãos“ einen heillosen Respekt gehabt und mehr als einmal erklärt, mit jedem anderen Feind könne er gut 20 Jahre lang Krieg führen, nicht aber mit den alemãos, denn die hätten Gewehre, die man nicht zu laden brauche.
Betrachten wir nun im Folgenden ein wenig die näheren Umstände, wie Christian Heinrich Bencke in Linha Brasil sesshaft wurde. Er als Pionier und Stammvater einer großen, im ganzen Staate bekannten und geachteten Familie, verdient wohl, dass man aus seinem Leben erzählt.
Nach Beendigung des Feldzuges gegen Rosas treffen wir den Helden unserer Geschichte in São Leopoldo, Porto Alegre und Santa Cruz. An all diesen Plätzen aber konnte es ihm nicht recht gefallen und er fasste schließlich den Entschluss, die gastlichen Gefilde Brasiliens zu verlassen, um nach Chile weiterzuwandern.
Aber: „Der Mensch denkt und Gott lenkt“. Bencke kam nur bis Porto Alegre. Dort traf er einen Landagenten der ihn überredete, es am Taquari zu versuchen, denn dort finde er fruchtbares Land in Hülle und Fülle, dazu hätten die Produkte guten Absatz und fischen könne er im Taquari soviel er ihn gelüste. Besonders das mit den Fischen lockte unsern Helden gar mächtig und frischen Mutes begab er sich mit Frau, Kind und Gepäck auf der Reise nach den neuen Gefilden. Aber — o weh — wo war die Kolonie an den Ufern des Taquari, wo die Fische und wo der gute Absatz? Zwei Tage marschierten sie auf dem Kampland um endlich, durch eine schmal Pike dorthin zu gelangen, wo ihre künftige Heimat sein sollte.
Man kann sich vorstellen, in welcher Gemütsstimmung unser guter Bencke war. Aber, was half das Klagen, das Fluchen und Murren? Des ewigen Umherziehens müde beschloss er, gute Miene zum bösen Spiel zu machen und den Versuch in der Wildins zu wagen. Aller Anfang ist schwer, aber ein Anfang, wie ihn dieser Siedler hatte, war manchmal schier unerträglich. Da war kein Mensch, den man um Rat fragen, kein Wesen dem sein Herz ausschütten konnte. Mitten in der Wildins, deren Eintönigkeit durch die oft fruchtlose harte Arbeit nur noch unerträglicher wurde. Da hieß: Vogel friss oder .. Solange die in Porto Alegre reichlich eingekauften Vorräte reichten, war es noch zum Haushalten. Zum Verzweifeln aber wurde er, als diese Vorräte zu Ende ginge, denn weder für Geld noch gute Worte hätte man neue Vorräte erwerben können.
Das erste Weihnachtsfest im Urwald rückte heran, Welch trauriges Weihnachten! die Einsamkeit legte sich lähmend auf alle Gemüter. Obwohl noch Geld vorhanden war, konnten die Nahrungsorgen nicht behoben werden. Der alte Bencke war kein Jäger, sonst hätte er sich von dem zahlreichen Wild schießen können und ein leckerer Weinachtsbraten hätte über das elend des Alltages hinwegtäuschen können. So aber begnügte er sich damit, ein in einer Falle gefangenes Gürteltier zum Weihnachtsschmaus herzurichten. Als Beispeise gab es dann noch Gemüse aus Palmitenherz.
Ein weiteres Jahr verging. Statt Besserung der Verhältnisse vergrößerte sich das elend zugehends. Die neuen Zuwanderer blieben aus, die Einsamkeit inmitten des unendlichen Uhrwaldes wurde unerträglich. Was Wunder, wenn schließlich der letzte Rest von Stimmung erlosch und die Flucht aus dieser Hölle der Abgeschlossenheit als letzte Möglichkeit zur Erhaltung des Lebens angesehen wurde. Ein einziger Gedanke beherrschte alle Gemüter: Zurück zu den Menschen, weg von dieser traurigen Städte, ganz gleich wohin!
Aber das Schicksal ist jedem Menschen vorgeschrieben und Christian Heinrich Bencke sollte nun einmal in der Linha Brasil zum Stammvater einer großen und geachteten Familie werden.
Mit den Schicksal .. und sehnsüchtig nach menschlichen Siedlungen spähend, waren die Urwaldflüchtlingen an eine Stelle, etwa 3/4 Stunden westlich des heutigen Venâncio Aires gelangt und rüsteten sich, dort unter freiem Himmel zu lagern. ein regnerischer Tag neigte sich seinem Ende zu, (… unlesbar …). Doch siehe! Was kam dort aus der Ferne angezogen? Menschen, Menschen — die lange entbehrte Augenweide. Deutschländer waren es, die sich auf dem Wege nach der Linha Brasil befanden, um sich dort anzusiedeln.
Es waren die Familien Jakob Gerlach, Peter Nagel, Elsenbach und Gass. Die nun folgende Begrüßung wurde zur unvergesslichen Feierstunden, die Freude war unermesslich. Jakob Gerlach hatte noch einige wohlgefüllte Bullen mit gutem Branntwein und konnte damit dem alten Meckenburger Bencke eine Freude bereite, die er schon lange, lange entbehren musste. Die Stimmung war bald trotz des schlechten Wetters eine ausgezeichnete und in dieser Stimmung lies die Familie Bencke sich auch leicht überreden, zurück in den Urwald der Linha Brasil zu ziehen. Neben der Familie Bencke, sind also die Familien Gerlach, Nagel, Elsenbach und Gass die eigentlichen Pioniere unseres Pikade. Nach und nach kamen noch folgende Siedler: Josef Gärtner, Ferdinand Felten, Philipp Metz, Aluis Hermes, Karl Wenzel, Franz Jantsch, Bernhard Henning, Jakob Meurer, Jakob Christmann, Jakob Ruppenthal, Jakob Gerlach (Sohn), Elisabeth Meurer und Richard Weber. Sie alle haben heute schon das Zeitliche gesegnet und an ihrer Stelle stehen die Nachkommen. Ehre dem Andenken dieser Alten!
Der Leben der Siedler entwickelte sich von da ab in der allerorts in Neusiedlungen gewohnten Weise. Viel Arbeit und wenig Nutzen, Schmalhans war oft und oft Küchenmeister, denn auch für Geld und gute Worte war weit und breit oft nichts zu bekommen. Konnte man mal eine Arroba Speck ergattern, dann war dies eine große Freude, auch wenn er noch so versalzend war. Brot kannte man in den ersten Jahren überhaupt nicht. Als Ersatz diente gekochter und dann gequetschter Mais, aus dem man eine Arte Grütze bereitete. Die Wohnungen waren armseligen Hütten, die mit Palmittenblättern gedeckt wurden. Ein großer Fortschritt war es, als einige Frauen die selbst gepflanzte Baumwolle versannen und zu rauen Stoffen verwehten. Man konnte wenigstens für die Kinder einige Kleidungstücke befertigen, um sie nicht in paradiesischer Einfachheit herumlaufen zu lassen. Bald bürgerte sich für die Kinder die folgende Tracht ein: Lange Hemden, die bis zum Boden reichten. Kamen Fremde in die Pikade, dann verschwanden die Hemdenmätze rasch hinter die Decken. Auch der Erzähler dieses Berichtes, Johann Bencke, ältester Sohn des Christian Heinrich Bencke, erinnert sich noch an die Jahre, wo er als Hemdenmatz herumlaufen musste.
Trotz materieller Nöte schlossen sich die Siedler bald zusammen und gründeten eine Shul-, Kirchen- und Friedhofsgemeinde, die heute noch besteht. Für Geselligkeit, besonders Gesang, wurde auch gesorgt.
Blicken wir heute nach Linha Brasil: Außer Schule und Kirche gibt es zwei Gesangvereine und einen Turnverein. Zwei Tanzsäle von Hedwin Freese und Armindo S. Christmann sorgen für Abwechslung im Alltag. Herr Ricardo Th. Pilz ist als Zahnarzt tätig und betriebt nebenbei noch eine Apotheke nebst Vertretung von Radioapparaten Mullard. Herr Pilz war von 1911 bis 1917 Lehrer in Linha Isabella und Centro Linha Brasil.
Arnaldo Pfaffenzeller, Agent der „A Nação“, betreibt eine Steinmetzwerkstatt seit 1935, Affonso Pfaffenzeller seit 1947 eine Schmiede. Dem Tanzsaal von Hedwin Freese ist eine Schlächterei angegliedert, ebenso ein gut sortiertes Geschäftshaus für Fazendas, Ferrragens und Secos e Molhados. Die sonstigen Bewohner der Linha Brasil widmen sich der Landwirtschaft und erzeugen Tabak, hauptschließlich Ofentabak. Die letzte Ernte ist sehr gut ausgefallen und man hofft, dass auch künftighin Gottes Segen auf der Arbeit der biederen Bewohner von Linha Brasil ruhen wird.
Dieser Pikade hat übrigens auch ihr Denkmal zu Ehren der Pioniere, die unter so widrigen Umständen den Nachkommen eine Heimstatt schaffen mussten. Als nämlich im Jahre 1935 die Steinmetzwerkstätte von Arnaldo Pfaffenzeller ihren Betrieb aufgenommen hatte und der 25. Juli — „Unser Tag“ — den Ansporn zu besonderer Ehrung der Altwordern gab, fanden sich Männer und Frauen genug, die sich die sich anheischig machten, den ersten Bewohnern ein Ehrenmal zu setzen. Ganz spontan fand sich ein großer Teil der hiesigen Bewohner zu mehreren Versammlungen zusammen, es wurden Gedanken ausgetauscht und Pläne geschmiedet. Zum Schluss wurde die Realisierung der Denkmalidee einer Kommission übertragen, die sich folgendernassen zusammensetzte: Ricardo Th. Pilz, Paulo Kaden, C. Ernesto Gärtner, Luis Freese, Guilherme Becker, M. Josefina Pilz, Anna Felten, Emilio F. Gerlach und Otto Bencke.
Frau Anna Felten und Frau Josefina Pilz übernahmen die Aufgabe, von Haus zu Haus für das Denkmal zu sammeln, sicher eine mühevolle und wenig ansprechende Aufgabe, die aber trotzdem mit großer Hingabe ausgeführt wurde. Die Sammlung ergab einen Betrag von Cr$ 543,00. Mit dieser Summer konnte das Denkmal bereits in Auftrag gegeben werden. Die Steinmetzarbeit von Arnaldo Pfaffenzeller übernahm die Ausführung in Sandstein zum Preise von Cr$ 650,00. Schon am 25. Juli konnte die Grundsteinbelegung erfolgen und am 18. Oktober selbigen Jahres fand dann die Einweihung statt. Bei beiden Feierlichkeiten wurde eine Brutto-Einnahme vom Cr$1.950,80 verzeichnet gegen Cr$ 1.711,80 an Auslagen, einschließlich der Denkmalkosten. Da das Ehrenmal genau vor der evangelischen Kirche steht, entschloss man sich, gleich eine Treppe zu bauen, die von der Straße zum Denkmal und von diesem zur Kirche führt. Diese Treppe, 265 cm, breit und ganz aus Sandstein, wurde von Herrn Luis Freese ausgeführt. Beigegebenes Bild zeigt in anschaulicher Weise, wie das Denkmal unserer Pikade zur Zierde gereicht. Es ist zugleich das sichtbare Zeichen für den Dank der heutigen Geneartion gegenüber den Pionieren, die längst schon dem jüngsten Tag entegeschlafen. Eher ihrem Andenken und Friede ihrer Asche.
Dieser Blog enthält auch eine Geschichte von Christian Heinrich Behncke.
Eine alte Karte mit Linha Brasil und der Grundstück von Christian Heinrich ist hier zu sehen.